Seit 2018 lebt die Mehrheit der
Weltbevölkerung in Städten
Gabriele Wittendorfer
Die ersten Städte waren vor allem Marktplätze. Zunächst für Güter und Informationen, später auch für Kapital. Saskia Sassen hat in den 1980er Jahren das Phänomen der „Global Cities“ (bei Sassen: London, New York, Tokio) untersucht. Ihre zentrale These war, dass die Nationalstaaten durch die Dominanz des globalen Austauschs von Kapital und Information ihrer Handlungsfähigkeit beraubt werden.
Was sie damals beobachtete, könnte heute als wichtiger Hebel zur Transformation unseres dysfunktionalen Lebens- und Wirtschaftsstils dienen: Die einzelnen Global Cities haben miteinander mehr zu tun und mehr Ähnlichkeiten als jede einzelne mit ihrem jeweiligen nationalen Umfeld. Sie bilden eine Plattform für die Ansiedlung von Unternehmenszentralen, IT-, Wirtschafts- und Kapitalmarktdienstleistern und ziehen entsprechenden High Professionals auf der einen und die von ihnen outgesourcten Reproduktionsarbeiter*innen (Putzen, Kochen, Gärtnern, Kümmern) auf der anderen Seite an. Was Sassen und die darauf aufbauenden Forscher*innen untersuchten, nämlich die selbstverstärkende Wirkung dieser Plattform, sollten wir uns nun zu Nutzen machen.
Wären die Global Cities in der Lage, den Rest der Welt in eine nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise zu führen?
Ein Gedankenexperiment auf der Basis der Erfahrungen von Kopenhagen:
- Seit 1970 hat die Stadt in ihre Radinfrastruktur investiert. 2012 wurde die städtische Rad-Strategie überarbeitet mit dem Ziel, dass bis 2025 50% aller Pendlerstrecken in Kopenhagen mit dem Rad zurückgelegt werden und die Zahl der schweren Unfälle um 70% reduziert wird. 2014 wurde das Ziel mit 45% Rad-Pendelanteil bereits fast erreicht. Erfolgstreiber waren ein 350 km langes sicheres und baulich außerordentliches Radwegenetz, die Möglichkeit das Rad mit dem ÖPNV zu transportieren und prominente Radel-Vorbilder aus der Stadtregierung und dem Königshaus. 2016 wurde ein smartes Verkehrsleitsystem installiert, dass dem Rad- und Busverkehr Vorfahrt einräumt.Was wäre, wenn High Potentials zukünftig nur noch an solchen Orten arbeiten wollten, an denen sie als Rad fahrende Pendler*innen Vorfahrt hätten?
- Die Stadtpolitik Kopenhagens hat 2015 aufgrund der prognostizierten Zunahme von Stürmen und Starkregen entschieden, die städtischen Grünanlagen und Wasserinfrastruktur über die nächsten 20 Jahre aus- und umzubauen – zum Vorteil der Umwelt, der Bewohnerschaft, des Budgets und der Gesundheit.Was wäre, wenn Betriebe ihre neuen Arbeitsstätten nur noch dort betrieben oder neu eröffneten, wo sie geringe Risiken durch Sturm- und Starkregenschäden befürchten müssen – egal ob auf dem Land oder in der Stadt?
- Um das Ziel einer CO2-neutralen Wärmeversorgung zu erreichen, hat die Kopenhagener Stadtpolitik entschieden, alte Kohlekraftwerke auf Pellets umzustellen und große Wärmepumpen zu testen, die Abwärme aus Brauchwasser, Industrie und Geothermie nutzen. 2025 wird die Stadt ihr Ziel erreicht und eines der größten Nahwärmenetze der Welt in Betrieb haben zum Vorteil der Umwelt und der Gesundheit und gleichzeitiger Schaffung von lokalen Arbeitsplätzen.Was wäre, wenn Baurecht für neue Arbeitsstätten nur noch für CO2-neutrale Gebäude erteilt würde, egal ob auf dem Land oder in der Stadt?
- 2016 hat die Kopenhagen zusammen mit dem Land Dänemark die Logik hinter den Wasserpreisen neugestaltet: Um die Vorsorge für Sturm- und Starkregenschäden finanzieren zu können, wurden sie in die Wassersteuer eingerechnet, d.h. zusammen mit den Versicherungen wurden Anreize geschaffen, damit es sich auch für private Grundbesitzer rechnet, in Maßnahmen der Klimaanpassung zu investieren.Was wäre, wenn die Höhe der Gewerbesteuer zukünftig mit dem Wasserkonsum des Gewerbes gekoppelt würde?
- Die Stadtverwaltung hat eine digitale Bewirtschaftung ihrer Infrastrukturen (Energie, Wasser, Wärme) eingeführt, d.h. nun können Störungen zeitnah bemerkt und entstört werden. 2016 hat dies dazu geführt, dass 30 Millionen Liter Grundwasser, 6.500 MWh Wärme und 1.345 MWh Strom gespart wurden.Was wäre, wenn es wie ein freiwilliges soziales Jahr auch ein freiwilliges digitales Jahr in großen Städten dieser Welt gäbe, damit diese Städte schnellstmöglich digitalisiert bewirtschaftet werden können? Gleichzeitig würden so die digitalen Grundkompetenzen ausgebaut und wichtige Skills für den Arbeitsmarkt 4.0 geschaffen.
- Kopenhagen möchte bis 2024 70% seines Mülls über die Einführung einer Kreislaufwirtschaft einsparen. Das soll durch den Ausbau der Mülltrennung, Anreize für Wiederverwendungs- oder Rückgabesysteme und Plattformen für technologische Innovationen gelingen.Was wäre, wenn staatliche Subventionen für öffentliche und betriebliche Akteure verpflichtend an die Erreichung von Abfallreduktionszielen gebunden wären?
Egal ob im Betrieb oder in der Stadt, Transformationen brauchen erstens Akteure, die mit offenen Augen sehen wollen, was kommt. Es braucht zweitens eine Entscheidung für Ziele, die messbar sind und einen Plan, wie man ihnen Schritt für Schritt näherkommt. Drittens braucht es dazu passende Spielregeln, die konsequent angewendet werden, was auch bedeutet, dass die eine oder andere bisherige Spielregel konsequent entsorgt werden muss.
Städte können nicht nur die Skalierungserfolge erreichen, die wir für eine Verlangsamung der Erderwärmung brauchen, sie bieten auch notwendige Resonanzräume für unsere neuen Maximen zum Leben in der Stadt: Lieber Grünräume statt Parkplätze. Sich häufiger selbst bewegen, statt automobil im Stau stehen. Innenstädten primär zum Bewohnen anstatt als Kulisse zum Shoppen.
Utopie? 2017 haben Kopenhagen und New York die Initiative Cities100: angeschoben, in der Städte ihre Veränderungsansätze in den Feldern Energie, Abfall, Verkehr, Anpassung und Verringerung von Klimawandelfolgen austauschen. Die Städte haben immer wieder eine wichtige Rolle bei gesellschaftlichen Transformationen gespielt. Sie bieten auch diesmal wieder eine naheliegende, weil realistische und effektive Option. Nutzen wir sie!